Viele Erinnerungen sind noch wach bei den Seniorinnen und Senioren unseres schönen Dorfes, viele Bilder der Nachkriegszeit, einige wenige noch aus Kriegszeiten oder sogar noch aus Jahren vor dem letzten Weltkrieg.
Von damals kann Johann Feyen noch authentisch erzählen, der als Zwanzigjähriger beim Angriff der Alliierten in der Normandie ein Bein verlor. Wer ihn erlebt, der sieht, wie aufrecht und zielstrebig er heute noch daherkommt, wer seinen Berichten zuhört, die eine sehr klare Erinnerung speist, wer ihn in seinem gepflegten zu Hause erlebt, der erlangt großen Respekt vor diesem Mann, der trotz seines massiven Handicaps ein Berufsleben lang an der Drehbank stand und sein Leben aufrecht meisterte. Johannes trifft sich heute regelmäßig mit einem kleinen Kreis verschwägerter Seniorinnen. Dies geschieht meist bei Margret Mießeler, die ein sehr schönes Fachwerkhaus im historischen Ortskern bewohnt, erbaut 1715. Schwägerin Klara hat dort, bevor sie mit „ihrem Willie“am Ortseingang Richtung Mechernich baute, ihre Kindheit und Jugend verbracht, während Margret damals weiter unten „am Hammer“ wohnte. Elsbeth, die dritte Schwägerin im Bunde, ist noch viel zu Fuß unterwegs und hält zu einigen Freundinnen guten Kontakt.
Die Treffen der betagten Truppe sind wie ein Lehrstück positiver Lebensbewältigung:
Johannes sammelt die Mädels mit seinem Wagen ein, man sitzt in gemütlicher Runde bei Kaffee und Kuchen und verbringt kurzweilige Nachmittage, an denen neben den vielen Anekdoten, Zoten und Erinnerungen auch ein geraumer Anteil Lebensmut und Vertrauen in „was immer auch noch kommt“ spürbar wird. Manches muss zwei-, dreimal gesagt werden, weil Margret sich hartnäckig weigert, ihr Hörgerät zu benutzen. Selbstironisch kommentiert wird das Ganze allerdings durch den Satz: „Met achzich sollt me jeschauße werde!“
Diesem Kreise sowie auch manchem Gespräch, unter anderem mit Hans-Gerd Harperscheid sowie Millie und Werner Borker entspringen die folgenden „Bruchstücke der Vergangenheit“, allerdings stark eingefärbt durch Erlebnisse und Erinnerungen aus eigener Kindheit.
Eine Fülle lebendiger, spürbarer Bilder gibt es noch von den langen, harten Wintern in der Eifel. Johannes und sein Nachbar Hans-Gerd erzählen von wilden Fahrten mit selbstgebauten, recht schweren Schlitten, deren Kufen zu Beginn der Saison sorgfältig entrostet und geschmirgelt wurden. Eine beliebte Abfahrt war der Weg nach Harzheim, beginnend oberhalb vom „Kalk“, des jetzigen Grillplatzes. Vorbei gings am ehemaligen Brennofen, ungehindert drauflos bis zu den ersten Häusern, über die Brücke des Hauserbaches, die damals nur aus nebeneinanderliegenden Schienen mit eingelegten Pflastersteinen bestand, um dann abrupt zu bremsen. Einer musste jeweils aufpassen und warnen, falls doch eines der seltenen Autos kommen sollte. Nur Johannes Sistig als Bäckermeister und Hubert Harperscheidt als Taxi-Pionier hatten damals ein motorisiertes Gefährt, erinnern sich Johannes und Hans-Gerd. Wenn die Bedingungen günstig waren, wurde die lange Streckenvariante gewählt: vom Ortsausgang Weyer aus vorbei an der Kakus-Höhle durch Dreimühlen, die steilen Kurven hinunter, schwierig dann der enge Bogen an Nassheuers Gastwirtschaft, dem heutigen „Butterhirsch“, und weiter bis zur Ortsmitte. Höchstens zweimal am Nachmittag konnten die Kinder diese Strecke vor der Dämmerung bewältigen.
Einige stolze Besitzer von Schlittschuh-Kufen, die damals mittels Vierkant-Schlüssel mit den festen Sohlen der Winterschuhe verklemmt wurden, machten sich auch gern auf den Weg zum Eislaufen „opBredendreesch“ auf halber Strecke Harzheim. Diese Eisfläche über dem Weiher wurde aber auch von der Harzheimer Jugend benutzt. Die größere oder vermeintlich stärkere „Gang“ hatte laut Erzählung von Hans-Gerd dabei jeweils das alleinige Eislaufrecht, was aber oft neu ausgefochten werden musste. Leider gab es in Harzheim mehrere Bauernhöfe mit den dazugehörigen Hofhunden, und wenn diese von den „Rivalen“ mitgebracht wurden, musste die Eiserfeyer Truppe Reißaus nehmen. Bei Dämmerung gings dann mit durchgefrorenen Gliedern und schneesteifen Hosen zurück in die Stuben, wo man sich auf die Wärme freute oder wo der Ärger wartete, weil man eingestehen musste, dass sich beim Rodeln schon wieder eine Schuhsohle abgelöst hatte. Dann mussten die Schuhe schleunigst zu Schuster Gerhards oder Schuster Mießeler gebracht werden, bei denen man als Kind nicht nur die große Leder-Nähmaschine und die Welle mit verschiedenen Bürsten und Schleifscheiben bestaunen konnte, sondern gratis auch eine wohlige Portion Lösungsmittel-Duft einatmen durfte. Und man hoffte, dass die Schuhe schnell repariert werden konnten, denn ein zweites Paar war meist nicht vorhanden. Das ist heute anders, besonders beim Konsum von Damen-Schuhen: „Ach, Schatz, guck doch mal! Grüne Halbhohe hab ich wenige!“
Wenn das Feuerholz aufgebraucht war und wenn das Geld gerade langte, wurden „bei Jette“ neben Nassheuers Wirtschaft „Klütte“ gekauft. Dann hieß es erst mal die große Kohle-Gabel packen und die „Klütte“ zum Abwiegen auf die Sack-Schütte der Dezimalwaage schaufeln, dann abgekippt in den Jute-Sack und zurück nach Hause, mit dem Leiterwagen oder manchmal auf dem Schlitten. Hart wurde es, wenn das Geld nicht reichte…
Gut geheizt war meist nur ein Raum im Haus: in der Küche spielte sich das Leben ab, wo der Küppersbusch-Herd immer in Gang gehalten wurde. Es war eine Wohltat, die warme, verchromte Reling mit beiden Händen zu umfassen, wenn man aus der Kälte hereinkam. Warmes Wasser im Schiffchen an der Seite, kein Herd ohne „Flöte-Kessel“, Ringe zum Herausnehmen auf der Feuerstelle, die große Platte regelmäßig gereinigt, mit „Ena-Blitz“, der weißlichen, zähfließenden Politur, die auf der warmen Herdplatte einen sonderbar vertrauten Geruch verströmte. Kochtopf oder Pfanne standen direkt über der Flamme. Und der Duft aus den Töpfen verstärkte noch das hungrige Grummeln im Magen…
Nicht wegzudenken waren die katholischen Rituale:
Die Gebete, vor dem Essen „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast,…“, nach der Mahlzeit „Der Engel des Herrn…“, ein langes Gebet, das die Geduld der Kinder auf die Probe stellte. Das Brot wurde vor dem Anschneiden mit einem Kreuz versehen, keine Stube ohne Kruzifix über der Tür, meist gab es eine Marien-Figur in der Ecke beim Esstisch. Die Kinder saßen eng gedrängt am grob gezimmerten Küchentisch, die Großen halfen den Kleinen, der Vater saß vor Kopf, die Mutter hantierte bis zuletzt am Herd. Die Stimmung der Familie hing ab von den Sorgen der Eltern: Reichte es mit dem Geld? War auf der Arbeit alles in Ordnung? Gab es in der Schule Ärger oder auf der Lehrstell? Wurde in der Nachbarschaft geredet? Andererseits reichten kleine, aus heutiger Sicht belanglose Gegebenheiten zur Freude der ganzen Familie. Dies konnte die Geburt eines Zickleins sein, ein selbstgebautes Spielzeug oder eine Anschaffung wie ein neuer Kochtopf oder ein Taschenmesser. Klara erinnert sich noch gut daran, wie der erste Schrank im Haushalt angeschafft wurde…
Nach den harten Arbeitstagen ging man recht früh zu Bett, das heißt die Schüttung aus Stroh wurde gelockert, das Plümo etwas ausgeschlagen, die grobe Decke gerichtet. Das Kerzenlicht oder schon die Glühbirne hellten die Eisblumen an den Fenstern etwas auf, der Atem war sichtbar in der kalten Luft. Aber wohlig fühlte sich der Ziegelstein aus dem Backofen an, eingeklemmt zwischen den Oberschenkeln, wenn man sich klein machte in der kalten Bettstatt. Die Mittel waren unterschiedlich, der Zweck derselbe: Johann berichtet von einer heißen, mit Sand gefüllten Steingut-Flasche, die ans Fußende gelegt wurde, bei Elsbeth war es ein großer, glatter Stein. Gut tat es, wenn das Geschwisterkind dazu schlüpfte, eng beieinander war es besser auszuhalten. Vor dem Einschlafen kam die Mutter noch für ein gemeinsames Gebet, dann noch etwas Getuschel – und Ruhe. Aber welche Überwindung kostete das Aufstehen am frühen Morgen! Lieber noch ein Weilchen die Eisblumen betrachten, die sich glätteten und auflösten, wenn man dagegen pustete. Sich noch einmal ganz klein machen unter dem dicken Plümo. Aber dann doch raus, „et nöz jo nix!“, kurz gewaschen über der Emaille-Schüssel, zweimal durchs Gesicht – „und denk an den Hals!!“, abgerieben mit dem Leinentuch, dann schnell anziehen, noch mal an den warmen Küchenherd gepresst, die Hände wieder an der Reling.
Überhaupt die Kleidung! Fast alles wurde selbst genäht, gestrickt, geändert und gestopft. Synthetische Stoffe wie auch Waschmaschine waren noch in weiter Ferne, dafür verfügten viele Haushalte über eine mechanische Nähmaschine, meist von Singer, Adler, Kaiser oder Pfaff. Die kleinen Kinder waren fasziniert von der Maschine. Entsprechend dem Takt, mit der die Mutter auf die Pedalfläche trat, hörte sich das Rattern an: ganz schnell bei langen, geraden Nähten, langsam an schwierigen Stellen, manchmal wurde auch nur vorsichtig das Handrad gedreht. Die schönen alten Maschinen waren damals eine große Anschaffung. Sie hatten als Altäre des Fortschritts ihren festen Platz in der Stube, bedeuteten ein Stück Unabhängigkeit für die „Großen“, für die „Kleinen“ ein kleines Wunder. Wenn man ein verziertes Blech an der Rückseite, das mit nur einer Handschraube befestigt war, hochdrehte, dann konnte man in den Bauch des Wunders blicken, wo die Zahnräder dunkel glänzten. Mal vorsichtig mit der Fingerkuppe über die feinen Zähne gestrichen – Nasenprobe: das Nähmaschinenöl (extra fein, harzfrei) roch ganz eigen. Und regelmäßig, wenn das Rattern der Maschine etwas härter wurde, bekamen die kleinen Löcher an der Oberseite des Rumpfes etwas Öl aus der sich konisch verjüngenden Spitze des kleinen ovalen Blechfläschchens. Noch die Reste mit einem Läppchen abgewischt, fertig: Die Maschine rattert nicht mehr, sie surrt.
Für Elsbeth war die Kindheit eng mit dem Nähen verbunden. Oft kniete sie auf dem Boden, um die Schnittmuster-Bögen aus dem Voban-Journal zu kopieren. „Das Röllchen mit den Zacken habe ich heute noch!“ Die Mutter legte die Stücke sorgsam und sparsam auf den Stoff, dann wurde ausgeschnitten, und das Nähen konnte beginnen. Elsbeth erinnert sich, dass die Mutter einmal sagte: „Wenn die Maschine kaputt geht, dann sind wir verloren!“ Stoffe und Nähgarn gabs bei Lauterbachs im Kolonialwaren-Laden, aber auch Leder, Schuhe, Tapeten, Nägel, das Nötigste an Werkzeug und viele andere Dinge des Lebens. Manches war auch im Verleih, zum Beispiel ein Sauerkraut-Hobel.
Eine Prozedur der besonderen Art fand am Waschtag statt. Das war der schlimmste, der ungemütlichste Tag, meint Klara, besonders im Winter. Schon am Vortag wurde die Wäsche in einem Kessel auf dem Küchenherd eingeweicht und erwärmt. Das Waschmittel Persil gabs erst seit kurzer Zeit, Klaras Mutter hat früher noch aus Wasser und Buchenholz- Asche eine Lauge bereitet. Morgens, wenn die Kinder in der Schule waren, wurde der Kessel vom Herd weg auf einen Dreibock gehievt. Die komplette Wäsche wurde von der Mutter mit der Wurzelbürste behandelt, gespült, ausgewrun- gen, dann wieder auf dem Herd aufgekocht, diesmal mit Sil als Bleichmittel. Immer wieder mit dem Wasch-Stock ge- rührt, angehoben, gestoßen, gedreht. Schwerstarbeit! Zum Trocknen gings dann rauf auf den Dachboden, im Winter wurde die Wäsche aber oft steifgefroren wieder in die warme Küche geholt und über Leinen gelegt, die kreuz und quer verspannt waren. Im Sommer war die Arbeit angenehmer, man behandelte die Wäsche draußen, legte sie zum Blei- chen auf das Gras, sprengte sie ab und zu mit der Gießkanne ein. Schön war es, wenn die fertige Wäsche auf der Leine im Sommerwind wehte. In den fünfziger Jahren gab`s dann die ersten Waschmaschinen mit Handkurbel. Klara weiß noch, dass beim „Schwengeln“ meistens gesungen wurde.
Gern und oft, so erzählt Johann, traf sich die Dorfjugend etwas unterhalb der „Jemeende-Bröck“ an der Bank zum Singen. Dort war auch der „Stürmer-Kasten“ an der Mauer aufgehängt. Jeder kannte einige Texte auswendig, „Hamachers Scheng“ spielte Akkordeon, später auch Hans-Gerd. Die Lieder, damals teilweise national eingefärbt, schafften ein Gefühl der Verbundenheit und Stärke.
Bei schlechtem Wetter traf sich die Gruppe in der Schneiderei von Matthias Wienand, genannt „Schnegge-Matthes“, der dafür bekannt war, die kurzen Kinderhosen immer viel zu lang zu schneidern, zum „Reinwachsen“. Seine Tür stand immer offen für die Jugend, und es wurde hier viel gesungen, sogar getanzt. „Johann, pass op, du tanzt met zwei!!“ hat Frau Wienand, gerade in guter Hoffnung, wohl einmal verlauten lassen. Die gemeinsame „aktive Musik“ von damals, verglichen mit dem heutigen Abhören von Medien über Kopfhörer, jeder für sich: stärker kann ein Gegensatz kaum sein.
Zur Zeit der Olympiade in Berlin, also 1936 gab es auch in Eiserfey verstärkt sportliche Aktivitäten. Johann erzählt von den Radrennen, die seinerzeit fast jeden Sonntag stattfanden. Start und Ziel war der „alte Hammer“.
Zunächst gings kurz bergab Richtung Vussem, dann rechts am Teich entlang, vorbei an der stillgelegten Pulvermühle über die „Öselsdell“, dann den Weg am Römerkanal hinauf zum „Nöppes“, hinter der Mühle rechts und am Kriegerdenkmal scharf rechts zurück zum „Hammer“. Manchmal trat man gleichzeitig gegeneinander an, manchmal wurde die Zeit abwechselnd mit demselben Fahrrad gestoppt. Bei den Rädern handelte es sich um teilweise abenteuerlich zusammengeschusterte Vehikel, die aber dem Spaß und dem sportlichen Ehrgeiz nicht abträglich waren. Da es damals noch keine Kinderräder gab, hielten die kleineren Jungs wie auch die Mädels das große Herrenrad so schräg, dass ein Bein durch den Rahmen zum Pedal gestreckt werden konnte. Auf diese Weise gab es schnell mal eine Verletzung, viel häufiger noch waren Strümpfe, Rock oder Hose „in der Kette“.
Margret ihrerseits erzählt von den turnerischen Aktivitäten an einem Reck, das im Schuppen gegenüber vom „alten Hammer“ aufgebaut war. Obwohl es für Mädchen als unschicklich galt, übte Klein-Margret emsig die verschiedenen Wellen, um es den Jungs gleichzutun. Überhaupt machte sie gern das, was eigentlich verboten war: Einmal wurde sie gerade noch gerettet, als sie auf dem Wasserrad der gegenüber liegenden Schmiede herumkletterte. Für die Kinder gab es in Eiserfey viele abenteuerliche Möglichkeiten!
In der Schule führte damals Lehrer Nießen das Regiment. Er schien alles zu wissen, duldete keinen Widerspruch. Er galt als sehr streng, aber gerecht. Trotzdem gab es so manche unverschuldete Ohrfeige, oder der Stock kam zum Einsatz. Ihm spielten Johannes und einige Kumpane einen netten Streich: Als Lehrer Nießen wie gewohnt, an der einen Seite des Hauserbachs auf dem Heimweg war, lauerten die Jungs versteckt auf der anderen Seite, in der Hand das Ende einer Schnur. Am anderen Ende war eine Holzattrappe befestigt, die gerade vor seinen Füßen mittels Schnur bewegt wurde, sodass der Lehrer durch die vermeintliche „Ratte“ einen gehörigen Schreck bekam…
Während der ersten Kriegsjahre wurde er abgelöst durch Frau Meinhard, genannt „Fieseler Storch“, einer gertenschlanken, hoch aufgeschossenen Verfechterin der braunen Ideologie. Hans-Gerd erinnert sich an die Zurechtweisung: „Das heißt nicht Grüß Gott“, „das heißt Heil Hitler!“
Während der letzten 18 Kriegsmonate fiel die Schule aus, viel Zeit wurde im Luftschutz-Stollen verbracht. Nach dem Kriege wurde der Unterricht mit Frau Rech und Herrn Freischmitt wieder aufgenommen, und zwar in zwei Klassen mit jeweils 40 Schülern!
Eine hohe Bedeutung hatte der Religionsunterricht inne, die Hinführung zum festen, unerschütterlichen Glauben, vornehmlich auf dem Wege der Gottesfurcht. So manche Kinderseele wurde durch die Beschreibung des Höllenfeuers verängstigt. Damals stand nicht der Gott der Gnade im Vordergrund, sondern der Richter, jeder musste seine „maxima culpa“ bekennen. Und der Pastor benutzte zur geistlichen Bildung durchaus weltliche Methoden, die teilweise lange auf Händen und dem Hinterteil spürbar waren. Hans-Gerd berichtet von Pastor Beulen, bei dem er als Messdiener sonntags zwei Messen und eine Andacht „dienen“ musste. Einmal wurden drei Messdiener angeschwärzt, weil sie wegen des guten Geruchs ein paar Zweige von einem Jasmin-Strauch neben der Kirche abgepflückt hatten. Sie wurden in die Sakristei zitiert und „durften“ aus dem schwarzen Hut ein Los ziehen, bei dem es um die Reihenfolge der Bestrafung ging. Derjenige, der „dran“ war, durfte dann zwischen Ohrfeigen und Schlägen mit dem Stock auf Hände oder Gesäß auswählen. Die anderen mussten, solange vor dem Altar beten…
Die heutige Jugend wird „Gott sei Dank“ eher zu einem gütigen Glauben an einen verzeihenden, gewährenden Gott geführt.
Ansonsten brachte der Jahresverlauf im Dorf recht wenig Abwechslung. Man freute sich umso mehr auf die wenigen Anlässe und Feste wie Karneval oder Kirmes. Nicht umsonst wird so manches hohe Hochzeits-Jubiläum in der Zeitung kommentiert mit „Auf dem Kirmes-Ball hatte es gefunkt!“ oder ähnlich. Diesen Festen wurde entgegengefiebert, und es war eine Katastrophe, wenn aus irgendeinem Grund der Besuch verwehrt blieb. Entsprechend hoch, ging es her beim Feiern, die Gläser wurden geleert, die Kapelle aus Köln spielte forsch auf, die Tanzpartnerin wurde enger gefasst. Aber Freud und Leid liegen eng beieinander: Nicht jeder fand, was er suchte, und so mancher Abgewiesene ließ seiner Wut freien Lauf. Eine Prügelei auf der Kirmes war eher die Regel.
Aber so richtig heftig, erzählen Johann und Hans-Gerd, kam es kurz nach dem Krieg auf dem Saal der Gaststätte Walber, der heutigen Römerstube. Dort war die Kirmes in vollem Gange, es wurde getanzt, getrunken, poussiert, gelacht. Auch einige von den „Grünen“ waren mit von der Partie, wobei die Bezeichnung einer Gruppe von ehemaligen Soldaten galt, die eine Rückkehr in die sowjetisch besetzte Zone hinauszögerten und in einer größeren Unterkunft in Mechernich verweilten. Wie es zum Streit kam, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Das Besondere war diesmal, dass die kleine „grüne“ Truppe, nachdem sie einiges eingesteckt hatte und bevor sie in Richtung Mechernich abzog, eine Rückkehr mit Verstärkung ankündigte. Dies sprach sich schnell herum, die Gemüter liefen heiß, alle Männer waren plötzlich solidarisch. Schnell war man mit geeigneten Knüppeln bewaffnet, angetrunken und sich gegenseitig anstachelnd erwartete man „den Feind“. Als dann wirklich die etwa zwölfköpfige Truppe auf einem LKW eintraf, wurde sie ungehindert in den Saal gelassen, die Tür von innen verschlossen. Der anschließende Kampf verlief übel und blutig. Letztlich verließen einige der verprügelten grünen Schar den Saal durch die hoch gelegenen Fenster, andere flogen die Treppe hinunter. Mit knapper Not wurden die Verletzten auf die LKW-Pritsche gehievt und man zog von dannen. Natürlich hat sich diese Begebenheit bei allen Beteiligten oder Zuschauern dauerhaft ins Gedächtnis eingebrannt, wenn auch vielleicht mit einigen Überzeichnungen und Verschiebungen des wirklichen Geschehens.
Jetzt mal wieder zu netteren Ereignissen. Es gibt auch viele Erinnerungen an die Zeit, während der die Kakus-Höhle als Veranstaltungsort eine Blüte erlebte.
Über die regionalen Grenzen hinaus bekannt waren die sonntäglichen Tanz-Nachmittage, von weit her kamen die Besucher, Jung und Alt, mit der Bahn bis Mechernich, dann ab in den Postbus bis Eiserfey. Manche der Betuchteren hatten schon einen eigenen Wagen, den sie gern und stolz vorführten, manche zeigten ihre schicke neue Garderobe, manche freuten sich einfach nur am Ausflug. Bei gutem Wetter waren es um die hundert Besucher, in der entsprechenden Zeit teilweise mit den „KdF“-Fahrten unterwegs, unter anderem auch aus Bayern und Berlin
Eiserfey mit seiner Höhle war ein landesweit bekanntes und beliebtes Ausflugsziel. Eine große Anziehungskraft hatte die schöne Gast- und Schankwirtschaft an der Höhle. Moppe-Marie führte hier das Regiment, tatkräftig, groß, attraktiv und beliebt. Viel Unterstützung erhielt sie in den Stoßzeiten, aber auch bei ruhigerem Geschäft von Ernst, der emsig kellnerte, kassierte und für Unterhaltung sorgte. Nebenbei umwarb er aber auch immer die brünett gelockte Wirtin, deren Ehemann Fritz eher blass und unscheinbar auftrat. Inwieweit sein Werben Erfolg hatte, bleibt ungewiss:
„Ob he raanjekumme ös, weeß me net.“
Jedenfalls war der Tanzboden zwischen Gaststätte und Höhle ein ideales Terrain, bei den nicht gerade kontaktfördernden sozialen und kirchlichen Regeln sowie der täglichen harten Arbeit ein wenig Zweisamkeit und Zärtlichkeit anzubahnen. Das bewaldete Umfeld wie auch die Nischen und Winkel des „Koansteens“ Gastwirtschaft Kakushöhle könnten sicher viel erzählen über Begehren und Wehren, Drängen und Hingabe der jungen Menschen, denen sie vor dem strengen und strafenden Umfeld Schutz und Versteck boten. Wie oft paarten sich dabei Lust und Angst! Bei Einigen hatte sich schon eher Gewohnheit in die verbotene Beziehung eingeschlichen, sodass der Ruf „Hück net, Michel, et ös Fronleichnam!!“ ins falsche Ohr drang und so im Dorf die Runde machte. Tatsache bleibt, dass einige junge Leute sich am „Koansteen“ kennen und lieben lernten und ein ausgefülltes, glückliches Eheleben lang zusammen blieben. Ein wunderbarer, ein magischer Ort!
Ein weiterer kleiner Tempel der Zweisamkeit befindet sich in der Nähe der Kirche, eine Laube im schönen, terrassierten Garten, von mehreren Seiten unbemerkt zugänglich, sacht beschützt von den Wipfeln des Buchenwaldes. Es gibt Orte, die kaum erwähnt werden. Das Lesen dieser Zeilen könnte bei einigen Bewohnern des Dorfes aber einige schöne Erinnerungen wecken, Träume wach rufen, noch einmal die damalige Verwirrung, die Spannung spürbar machen. Gut so!
gesammelt und verfasst von Theo Weidebach
Quelle der Bilder:
- Millie und Werner Borker: Bild 1 und 2
- Michael Linden (über Ralf Hochgürtel): Bild 3
- Gerd Nöthen: Bild 4-7